Vom Glanz der Bescheidenheit – Schefflenzer Ultra, 50 km, 2012Jäher Schrecken zuckt durch seinen müden Körper. Adrenalinschub. Falscher Tag!!? VerkehrteWoche!!? Im letzten Moment abgesagt!!? Alles umsonst: Das frühe Aufstehen, die vielen KilometerAnfahrt, Hund mitgenommen. Kein Mensch auf der Straße seit er mit seinem Wagen in das DorfAllfeld rollte. Irgendein unseliges Missverständnis? Oder wieder einer seiner, ihm selbst soverhassten Irrtümer? Kein Lebenszeichen auf dem Weg zur Sporthalle, wo der Start stattfindensoll. Dort oben, hinter Büschen, muss es sein. Noch immer zeigt sich keine Nase ... er bereitet sichauf das Schlimmste vor. Kurz den Berg hinauf, scharfe Rechtskurve und … da parken Autos (!)und zwei, drei Leute – eindeutig Läufer (!!) – sind dazwischen auszumachen. Mit leisem Zischenentweicht die Luft aus seinem Mund und der Hormonspiegel strebt in Richtung Normalwerte …– – –Roxi bleibt zunächst im Auto, während ich mich in die Minischlange vor der Startnummernausgabeeinreihe. Eine Handvoll Menschen verliert sich in der großen Halle. Dass beim Schefflenzer Ultrakeine Enge herrschen würde, war mir vorher klar. Auf der Homepage wird die Veranstaltung als„Einladungslauf mit Teilnehmerlimit“ vorgestellt. 200 zugelassene Läufer verteilen sich dann auchnoch auf drei Bewerbe: 100 km, 50 km und Marathon. Um das schon mal vorweg zu nehmen: AlleLokalitäten vertrügen ein Mehrfaches der tatsächlichen Teilnehmerzahl, die bedauerlicherweisenicht mal das Limit erreichte. Aber vielleicht überzeugt mein Bericht ein paar Ultras, die sichSchefflenz im nächsten Jahr nicht entgehen lassen …Wo liegt nun dieses „Schefflenz“? Mit dem Finger auf der Karte nach Stuttgart, von dort nachNorden über Heilbronn, dann sind es Luftlinie noch etwa 25 Kilometer bis zur GemeindeSchefflenz. Sie liegt in den Ausläufern des südlichen Odenwaldes, im Naturpark Neckar-Odenwald.Start und Ziel hat man dieses Jahr ins Dörfchen Allfeld verlegt, ein paar Kilometer weiter südlich.Offensichtlich sind die LG Schefflenz als Trägerverein und ihr rühriger Cheforganisator nach derletztjährigen Erstauflage noch immer auf der Suche nach der bestmöglichen Infrastruktur. ErklärtesZiel ist zudem, immer wieder Varianten anzubieten, um das Interesse an der Veranstaltung wachzu halten. Im nächsten Jahr soll eventuell ein 100 Meilenlauf das Programm ergänzen.Diesem Ultra sehe ich mit Freude und Bangen entgegen. Zum ersten Mal in diesem Jahr möchteich einen Wettkampf zusammen mit unserem Laufwunder Roxi bestreiten, was bisher amCharakter der Strecke oder in einem Fall am Reglement (Hollenlauf) scheiterte. Meine Vorfreudebraucht sicher keine Erklärung. Das Bangen schon eher: Roxi ist keine Kandidatin für dieLaufleine! Und mit freilaufendem Hund an einer Laufveranstaltung teilzunehmen ist ein Wagnis undauch ein wenig anstrengend. Einerseits soll sie niemanden erschrecken, behindern oder gargefährden. Zum anderen sind Straßenquerungen unvermeidlich. Die gilt es frühzeitig zu erkennenund Roxi sicher an den Fuß zu holen.Der Schefflenzer Teamchef weist die „angetretenen“ Marathon- und 50 km-Läufer in Markierung,neuralgische Punkte und Besonderheiten der Strecke ein. Roxi sitzt angeleint neben mir. Wer siekennt, spürt ihre innere Spannung. Läufergerüche, Bekleidungsgewohnheiten (insbesonderemeine) und Geräuschkulisse sind ihr nicht neu. Instinktiv weiß sie, was in ein paar Minutenpassieren wird: LAUFEN!!! Die ungläubigen Blicke und zweifelnden, beinahe mitleidigenBemerkungen der Umstehenden kenne ich: „Läuft der wirklich mit?“ Man sieht ihr weder das Gen„Born-to-be-wild!“ an, noch ihre Sprungkraft, am wenigsten ihre aberwitzige Ausdauer. Schlappmacht sie nur bei Wärme in Verbindung mit starker Sonneneinstrahlung. Doch dagegen helfenTauchbäder, für die wir bisher immer Möglichkeiten neben der Strecke fanden, wenn daserforderlich war. Es geht los, die Hundertschaft Läufer rückt zur Startlinie vor. Augenblicklich bäumt sich Roxi an derLeine auf und entlädt ihre Aufregung in mehrmaligem, hochfrequentem Bellen. Ich knurre ihr eineErmahnung ins Ohr, dann platzieren wir uns am Ende des Feldes. Ohne viel Federlesen, mitschlichtem „Auf die Plätze – fertig – los!“, gehen wir auf die Reise. Beschleunigen muss ich dazunicht, vielmehr der ungestümen Roxi wehren, die sich kraftvoll in die Leine wirft. Auf die Leinekönnen wir erst verzichten, wenn sich das Feld auseinander gezogen hat. Bei nicht mal hundertTeilnehmern reichen dafür die ersten tausend Meter. Wir kauern kurz neben der Strecke, ich lösedas dünne Seil und verstaue es in meiner Gesäßtasche. Mit dem Kommando „Roxi langsam!“nehmen wir den Wettkampf wieder auf. Roxi tippelt ungeduldig neben meinem linken Fuß. Nur ein-, zweihundert Meter weiter wird ihr Tag dann rundum herrlich: „Roxi lauf!“ Wie ein geölter Blitzprescht sie davon, feiert ihre Freiheit mit einem ersten Spurt und überholt zwei, dreiLäufergrüppchen. Schließlich kehrt sie um, trabt zurück, nimmt jeden Entgegenkommenden insVisier, bis sie ihren „Rudelboss“ erkennt und zischt neuerlich in Richtung Ziel davon. Schnüffelt mallinks, wittert nach rechts, lebt ihre Hundeseele nach Herzenslust aus. Auf diese, ihrem hündischenNaturell entsprechende Weise wird sie den Ultra bestreiten. Genau so – und nur so! – mag ich mitihr laufen.„Hallo Udo!“ Einer, der mich aus dem Forum kennt, hat mich erkannt und in ein kurzes Gesprächüber die heutigen Absichten verwickelt. Seine Begleiterin hat mehr Interesse an Roxis unstetemVerhalten. Schon aus ihrer ersten Bemerkung spricht Angst vor Hunden, wofür ich vollesVerständnis aufbringe. Zu oft sehen sich Läufer Attacken schlecht erzogener Vierbeinerausgesetzt. Sie kann nicht wissen, dass Roxi in jedem Menschen einen Freund sieht. Kinder magsie besonders. Je kleiner und hilfloser sie sind, umso bedächtiger nähert sie sich denschutzbedürftigen „Welpen“. Tritt man ihr versehentlich auf Pfote oder Schwanz, springt siequietschend zur Seite, schnappt aber nicht nach dem Verursacher. Wäre es auch nur um ein Jotaanders, nähme ich sie zu offiziellen Läufen nicht mit. All das kann eine von Hundefurcht gepeinigteMenschenseele aber nicht wissen …Ein erster, minutenlanger, allmählicher Anstieg in lockerem Wald liegt hinter uns. Vor der nunschon zerrissenen Läuferkette öffnet sich eine Art Hochfläche, sanft gewellt, ganz und garlandwirtschaftlich geprägt: ringsum Rübenäcker, vielfach bereits hüfthoch stehendes Getreide,vereinzelt Wiesen. Darüber wölbt sich ein blassblauer Himmel mit dünner, aufgelockerterSchleierbewölkung, der dauerhaft gutes Laufwetter verspricht. Da sich kein Lüftchen regt, spieltauch der fehlende Windschutz keine Rolle. Also alles bestens! Alles? Im Grunde schon, doch wie immer in den letzten Wochen sind meine Beine müde.„Restermüdung“ heißt der korrekte Terminus der Trainingslehre. Restermüdung gehört in derVorbereitung zu einem anspruchsvollen Saisonziel so selbstverständlich zu meinem Leben, wieessen, trinken und schlafen. Diesen Ultralauf mit seinen 50 km und knapp 1.000 Höhenmeterntrete ich ohne Tapering unter voller Trainingsbelastung an. Wenn Roxi und ich das Ziel erreichen,dann werden wir 157 Wochenkilometer in den Beinen haben. Trainingseinheiten von kurz bis lang,in allen Tempobereichen, sogar ein Intervalltraining. Müde Beine stellen folglich keinen Grund zurSorge da, lassen mich auch nicht am erfolgreichen Ausgang dieses Trainingslaufes zweifeln. EinTrainingslauf, nicht mehr und nicht weniger. Ich rufe es mir in Erinnerung, um etwaige Anfälle vonLauflust und Ehrgeiz gleich im Keim zu ersticken. Saisonziel sind die 100 km des Thüringen-Ultraim Juli. Roxi wird mir helfen mich mit „ferner liefen“ zu bescheiden, denn Roxi kostet Zeit. Wo undwie wirst du noch lesen.Die erste Verpflegungsstelle in einem lediglich aus ein paar Höfen bestehenden Weiler liegt hinteruns. Ich werde trinken, was im Angebot ist, eben waren das gesüßter Tee und Cola. FesteNahrung verschmähe ich, wie immer. Ein Geländeeinschnitt fordert abwärts Aufmerksamkeit aufholprigem, vom Regen ausgewaschenem Geläuf und gleich im Anschluss reichlich Kraft, um dieverlorene Höhe in steilem Aufschwung wieder zu erobern. Ständig verschiebt sich meine Positionzu den wenigen Mitläufern, die jetzt noch in Reichweite sind. Ursache ist mein Wunsch nachbrauchbaren Fotos, die ich immer wieder auch stehend schieße. Außerdem drossele ich bergaufdas Tempo drastisch, um mich nicht vorzeitig zu verschleißen. Nebenbei: Ich habe mich auf keineZielzeit festgelegt. Natürlich gibt es eine „realistische“ Schätzung, derzufolge etwa fünf Stundenreichen müssten, im Schnitt also ein Tempo von 6 min/km. Hier, in Höhe des 10 km-Schildes, liegeich etwa eine Minute hinter dieser Schätzung zurück.Die mehrköpfige Besatzung der zweiten Verpflegungsstelle empfängt uns mit heftigem Beifall. Roxilöst einmal mehr Erstaunen aus und zieht gleich alle Aufmerksamkeit auf sich. Im Becher bietetman ihr Wasser an, das sie jedoch nach kurzem Schnüffeln ignoriert. Ich leere meinen zweitenBecher Iso, bedanke mich artig für die Unterstützung und werde mit guten Wünschen auf dieStrecke entlassen. Und die verschwindet nach zwei Minuten im Wald. Vorwiegend Laubwald, kühl,schattig, noch feucht vom Regen der jüngsten Zeit. Ich vereinsame zusehends. EinenKontrahenten ließ ich eben hinter mir, folge seitdem Pfeilen und Markierungsbändern. Nurgelegentlich, auf langen Geradeauspassagen und in der Ferne, fangen meine Augen zwei, dreiandere Läufer ein.Wald ist geil! Mit dieser dem Zeitgeist entlehnten, nichtsdestoweniger vulgär formuliertenUmschreibung emotional motivierter Hingezogenheit fasse ich nicht meine (zugegeben ähnlichen)Empfindungen zusammen*. Vielmehr interpretiert sie Roxis aufgeregtes Verhalten. Zig Wildfährtenbeidseits des Weges ziehen ihr durch die Nase, lassen sie bald hier, bald dort am Boden undGräsern schnuppernd verharren. Mehrmals verschwindet sie auch zu sekundenkurzen Stippvisitenhinter Büschen und im Gestrüpp. Manchmal bleibt sie hingebungsvoll schnüffelnd zurück, umwenig später mit beherztem Sprint an mir vorbei zu ziehen, zig Meter voraus, bis eine neue Spurihre Riechzellen kitzelt. *) Wenn ich mir den Satz so angucke, dann sollte ich wohl besser die Kurzform „Wald ist geil!“beibehalten!?Wald Ende und fast zurück am vorigen Verpflegungsstand. Ein paar Meter davor biegen wirallerdings nach links ab und pausieren vor der dritten Tränke. Wieder steht Roxi im Mittelpunkt allerBemühungen. Wieder reicht man ihr Wasser und wieder verschmäht sie es. „Sie hat im Wald ausPfützen gesoffen!“ erläutere ich ihre Ablehnung. Dafür lässt sich Roxi eine halbe Scheibe Brotschmecken, die ich für sie erbeten habe und ihr nun Stück für Stück als Leckerle anbiete. Begegnungen auf dem nächsten Abschnitt: Drei Mitläufer, die es vorziehen in einer Steigung zugehen. Eine Reiterin von rechts, die auf unseren Laufweg einschwenkt und lächelnd wartet, bis wirvorbei sind. Ein Trecker, der mit langsamer Fahrt folgt und hinter uns in einem Seitenwegverschwindet. Das Kilometertäfelchen mit der „20“, das wir knapp unter zwei Stunden passieren.Zuletzt einen kapitalen Buckel, dessen steile Flanke ich nur steppend und mit Luft unter denFersen überwinden kann. Seite an Seite traben Roxi und ich in ein Dorf, auf dem Bürgersteig talwärts, queren dieHauptstraße und entschwinden schließlich auf schmalem, überkrautetem Pfad zwischen Gärten.Zwei Hindernisse sind hier zu überwinden: Einen Bach vermittels Brücklein und eine ältere, wieaufgeplustert wirkende Frau, die schmunzelnd zur Seite weicht. Schließlich landen wir vormnächsten Verpflegungspunkt, wo Roxis Auftauchen einmal mehr Entzücken auslöst. Die Stationliegt für das Tandem „Läufer mit Hund“ ideal neben dem Dorfteich. Ein Satz und mein Hund stehtbis zum Bauch im Wasser, schlabbert mit Hingabe vom köstlichen Nass. Mit einem Steinwurfanimiere ich sie zu langen Sätzen in Richtung tieferes Wasser, um sie vollends abzukühlen. Ambesten gefällt den beiden Helfern unsere Darbietung, willkommene Abwechslung im untätigenRumstehen. Ich bedanke mich für zwei Becher Iso sowie Roxis Cräcker und mache mich mit einemvor Nässe triefenden Hund wieder auf den Weg.Allein in Wald und Flur. Erst aufwärts im Forst, schließlich nahezu ebenerdig zwischen Feldern.Ganz und gar allein, an dieser Stelle mit der 25 km-Tafel. Halbzeit. Wäre doch witzig meinen Hundvor der Wegmarke abzulichten. Also rufe ich „Roxi! Zu mir!“, in der Absicht sie vorm Schild „hübschzu drapieren“. Die Bedürfnisse von Menschen und Hunden differieren jedoch oft erheblich. Undunverständliche Anweisungen – wie jetzt mein wildes „Rumfuchteln“ mit den Armen – interpretierenVierbeiner nach Gusto. Also wirft sie sich flugs auf den Rücken, windet sich schlangengleich imkuscheligen Gras, um ihr Fell trocken zu reiben und demonstriert auf diese Weise ein Höchstmaßan Wohlbefinden.Wieder allein auf weiter Flur. Nirgendwo zeigen sich Zweibeiner in Laufmontur. Zum wiederholtenMal brüte ich über dem Rätsel, weshalb sich der Veranstalter ein derart niedriges Teilnehmerlimitauferlegt. Nur 200!? Nicht mal zu Beginn ein Anflug von Enge und später nur selteneBegegnungen. Ich verstehe es nicht. Selbstbeschränkung fällt selbstverständlich leicht, wenn mandie Grenze ohnehin nicht erreicht. Der Gedanke liegt bei insgesamt nur hundert gewertetenLäufern nahe, trifft aber sicher nicht den Kern. Liegt die Befürchtung von Abfall, den Läufer in derNatur hinterlassen und möglichem Ärger mit Anliegern oder Behörden dem Limit zugrunde? Dochauch in unserer Hundertschaft kann sich ein Ferkel verbergen, das ausgelutschte Gelbeutel, dieVerpackung seines Energieriegels oder leere Trinkbecher gedankenlos in der Landschaft entsorgt.Welche Ursache hat die Bescheidenheit des Veranstalters wirklich?Zwischen Feldern: Vorbei an einem Fahrsilo**, aus dem mir der typische, streng säuerlicheSilagegeruch durch die Nase zieht. Vorbei auch am mutmaßlichen Besitzer, einem vom Traktorabgesessenen Bauern und zwei weiteren Personen, als Trio derart im Gespräch vertieft, dass mannicht die geringste Notiz von dem Spinner mit der Startnummer nimmt. Was denken Menschen, dieihr Leben mit harter körperlicher Arbeit verbringen, Menschen wie dieser Landwirt, von einem wiemir? Von einem, der sich den Luxus leistet (ihn vielleicht sogar sinnstiftend braucht?),überschüssige Energie durch zweckfreies Umherlaufen abzubauen. Kalorien, die jener sich nurkauend einverleiben kann, weil der Bauern Hände Arbeit die Nahrung gedeihen ließen ... Szenebleibt zurück, Gedanke entgleitet … **) „Fahrsilo“ bezeichnet eine mehr oder weniger flache, zuletzt abgedeckte Aufschüttung vonGetreide oder Gras, mit oder ohne betonierte Seitenwände, zur Gewinnung von Silagefutter (sieheauch Wikipedia).Straße, minimal abschüssig, rechts und links umzäunte Anwesen eines Gewerbegebiets.Ortsschild: Billigheim. Die Streckenmarkierung schickt mich durch das Gebrauchtwagenangeboteines Autohauses, vor dessen Verkaufsräumen weitere Labsal auf uns wartet. Roxi bekommteinen Cräcker und mein Magen füllt sich mit Iso. Man müht sich um Roxi und mich, zeigt ehrlichesInteresse, wie es mir ergeht. „Vorzugsbehandlung“ dieser Art – sie wiederholt sich an jeder Tränke– wird mir sicher nicht nur Roxis wegen zuteil. Läufer trudeln einzeln ein und in geringer Zahl. Wersich ein paar Sekunden Zeit nimmt, wird hofiert wie anderswo ein Dieter Baumann auf Promotion-Tour. Sie hat durchaus Charme, eine so geringe Teilnehmerzahl.Irre ich mich oder guckt Roxi mitleidig? Steiler Buckel rauf, steiler Buckel runter, wachsweicheBeine und gleich wieder aufwärts, jetzt im Wald, nicht steil, dafür zwei elend lange Kilometer weit.Ich irre mich nicht! Roxi guckt mitleidig! Ab und zu bleibt sie stehen, wartet auf ihrenlahmarschigen, schwitzenden Rudelführer. Tippelt dann weiter voraus und demonstriert ihre„Leichtigkeit des Seins“ durch gelegentliches Schnüffeln am Wegrand. Braucht es weitereBeweise, dass mit der Erhebung zum Zweibeiner eine krasse Fehlentscheidung der Evolutionvorliegt? Begangen an der Gattung „Homo“ zur Erschaffung des „Homo sapiens“ vor MillionenJahren. Teuflischerweise einhergehend mit der Verleihung von Bewusstsein und der Fähigkeit zumDenken. „Warum tue ich mir das eigentlich an?“ denkt der Homo sapiens manchmal, so auch indiesem Augenblick. Doch auf den Berg folgt ein Tal und der Jammer verflüchtigt sich iminzwischen wieder bedeckten Himmel.Herr und Hund traben einträchtig nebeneinander durch das nächste Dorf. Völlig unerwartet höreich hinter mir Laufschritte, die sich rasch und unaufhaltsam nähern. Einer, den ich vor mehr alseiner Stunde hinter mir ließ, zieht nun wieder vorbei. Zu diesem frühen Zeitpunkt (etwa bei Km 34)schon eine Tempoverschärfung? Der Waghalsige verlässt den nächsten Verpflegungspunktbergwärts kurz nach unserem Eintreffen. Wieder bemüht man sich um mich, als trüge ich dieKennzeichnung „VIP“ auf der Stirn. „Und wie läuft es so? Noch genug Kraft?“ Zwischen zweiBechern Iso gebe ich positive Rückmeldung. „Läufst du auch Marathon?“ Ich oute mich als 50 km-Läufer und werde auf eine alternative Route verwiesen. Ach so ist das: Der forsche Schnellläufervon eben war ein Marathoni, ihm fehlen folglich nur noch acht Kilometer zum Finish.Der Radweg zieht sich und das auch noch mit leichter Steigung in Richtung Talschluss. Aber er istasphaltiert, also fußfreundlich und belohnt mit schönen Ausblicken ringsum. Attraktive Panoramenhat die Strecke zu Hauf im Angebot. Nichts Spektakuläres, dafür unentwegt. In der Ferne mühtsich ein gemächlicher Radler, dahinter trottet ein Hund. Die Meldung „Hund voraus“ übermitteltmeist auch Roxis Körperspannung und ihr abruptes Stehenbleiben in „eingefrorener“ Haltung. Derbraun-weiße „Gegner“ entpuppt sich jedoch als Feigling, verkrümelt sich erst seitwärts auf einegemähte Wiese, um sich von hinten wieder anzuschleichen. Wem gehört er eigentlich? DemRadfahrer jedenfalls nicht, der ist inzwischen über alle Berge. Der Radweg endet in Schefflenz(was ich aber mangels Ortschild nicht weiß). Am Ortseingang zeigt die Markierung nach rechts, inden „Nachtigallenweg“ und … steil nach oben. Es folgen die zweihundert anstrengendsten Meterdes gesamten Kurses und Nachtigallen höre ich hier wahrlich nicht trällern …Wir durchqueren ein Waldgebiet und begegnen … keinem Menschen … dafür dem willkommenenSchild mit der Zahl „40“ drauf. Zwei Minuten fehlen an vier Stunden Laufzeit. Einen Kräfteeinbruchwerde ich auf der Schlussetappe nicht erleiden, das weiß ich sicher (Ich weiß nur nicht, woher ichdas weiß). Außerdem werden die Gefälleabschnitte zum Ende hin überwiegen. Alles in allemrechne ich mir eine gute Chance aus unter den geschätzten fünf Stunden zu bleiben. Aus derChance bastele ich mir flugs ein Ziel. Warum auch nicht. Zehn Restkilometer sind eineüberschaubare Distanz, ich spüre keinerlei Beschwerden und meine Ausdauerreserve wirdreichen. Wieder auf offener Flur unter einem zwischenzeitlich recht düsteren Himmel. Getreidefelder,Rübenäcker, selten eine Wiese. Dann und wann steht da ein einsamer Baum und wirft Fragen auf:Warum steht der da? Genauer: Wieso durfte er wachsen, der Erde Kraft entziehen, da doch ringsumher jedes Fleckchen Erde ackerbauliche Erträge zu liefern hat? Und weshalb ausgerechnet andieser Stelle? Antworten erwarte ich nicht und auch meine Fragen sind vergessen, als endlich malwieder ein Läufer vor mir auftaucht. Rasch hole ich auf, denn der junge Kerl mit Laufrucksack hatsein Pulver wohl großenteils verschossen. Es ist wie immer, wenn ich in der Spätphase desWettkampfs überhole: In der Schwäche des anderen erkenne ich meine Stärke und lasse michstückweit davon tragen.In Höhe der 45 km-Markierung fehlen laut Anzeige des Forerunner noch ein paar hundert Meter.GPS-Geräte messen fehlerbehaftet, mein Forerunner meist zu großzügig. Aber das Gegenteilhabe ich auch schon ein paar Mal erlebt. Also nur noch fünf Kilometer und mehr als eine halbeStunde, um in der Zielzeit zu bleiben. Ein Kinderspiel also. Wir erreichen den Ort Billigheim einzweites Mal, nur jetzt aus anderer Richtung. Ein knapper Kilometer weit Häuser, Straßen undGewerbe. Da wären wir binnen fünf Minuten durch, weil ich unterdessen mein Tempo unbewusstverschärft habe. Wären, denn unverhofft bietet sich eine Möglichkeit auf die ich seit über einerStunde warte. Im Rückstau des Baches kann ich endlich Roxi „waschen“! Nach ihrem ersten Badwälzte sie sich in einem Sandhaufen und ist seitdem von grau-weißem Dreck gezeichnet. Raschfindet sich ein Stöckchen, das ich mitten in den Teich werfe. Laufen ist toll, Wasser auch: Mitbeherztem Satz springt der Retriever in Roxi dem Stöckchen hinterher und apportiert das für denRudelführer so ungemein wichtige Stück Holz. Manöver gelungen, Hund sauber und ein Pluspunktfür die Evolution. Manchmal sind zu logischem Denken fähige Hirnzellen eben doch nützlicher, alsvier Beine zum Laufen.Auf asphaltiertem Radweg, überwiegend sanft abwärts, nähern wir uns dem Ziel. Während meinerrasanten Schlussoffensive überhole ich drei weitere Läufer und „fliege“ geradezu an derMarathonmarkierung „Km 40“ vorbei. Meine Entfernungsanzeige untertreibt immer noch. Egal, diewerden schon richtig gemessen haben. Blick zur Uhr: Noch 17 Minuten Zeit, um unter einer Stundezu bleiben. Zeit verstreicht, Meter um Meter Strecke bleibt hinter mir zurück. Einerseits sonne ichmich im Gefühl dieses Tempo ohne Schwierigkeiten und Beschwerden halten zu können.Andererseits keimen Bedenken, als mein Forerunner 49 Kilometer anzeigt und vom Zielort nochweit und breit nichts zu sehen ist. Als wir in Allfeld ankommen steht fest, dass mit derBeschilderung etwas nicht stimmen kann. Zunächst schlagen wir zwei Haken, erst rechts, dannlinks, überqueren dabei den Bach, rennen schließlich ein Stück in Sichtweite daran entlang.Hübscher Ort, hie und da ein Fachwerkhaus. Gehetzter Blick zur Anzeige: 50 Kilometer vorbei undich quere gerade erst die Hauptstraße. Hektischer Blick zur Uhr: Das wird eng! Mein vermeintlichesZeitpolster schmilzt wie Butter in der heißen Pfanne. Ich renne, was die Beine hergeben. Noch einletztes Mal bergan, schließlich mitten durch den Parkplatz und endlich mit Roxi zusammen ins Ziel.Bei 4:59:42 h bleibt das Zählwerk für uns stehen und damit erringe ich auch den gewünschten Sieggegen die Uhr.Wir sind die Stars im Zielbereich. Weniger ich, Roxi dafür mehr. Der Cheforganisator höchstpersönlich überreicht mir die Siegerschärpe und schießt ein paar Fotos von uns (eineAufmerksamkeit, die er übrigens auch vielen anderen Finishern angedeihen lässt). Wiederüberkommt mich das im Laufzirkus seltene Gefühl als Läufer (= Mensch) und nicht überwiegendals Startnummer betrachtet zu werden. Fairerweise muss man natürlich einräumen, dass esanders meist gar nicht geht und auch anderenorts Fürsorge ernst genommen wird. Zuwendung indiesem Umfang ist jedoch nur möglich, wenn man sich mit einer kleinen Teilnehmerzahlbescheidet, wenn folglich das Feld klein und die Zahl der Helfer groß ist. Fazit zum Schefflenzer UltraDas gesamte OrgTeam bringt sich mit Hingabe und Liebe zum Detail in eine tolle Veranstaltungein! Das gilt für alle, vom Chef an der Spitze, über die Helfer an den Verpflegungspunkten, derStartnummernausgabe oder dem Urkundendruck, bis zum Personal am Ausschank und demKaffee-mit-Kuchen-Büffet. Überall freundliche Zuwendung, Unterstützung und Interesse am Wohlder Läufer. Die Strecke lockt mit ständig wechselnden Panoramen und Ansichten, eine Freude für jedenLandschaftsläufer. Ich wünsche den Schefflenzern viel mehr Teilnehmer, wenigstens aber jenezweihundert, auf die sie sich selbst beschränken.